
Liebe Leser:innen,
wo soll man anfangen, wenn einem Tag für Tag neue Ungeheuerlichkeiten um die Ohren fliegen? Hier Tabubruch und X-Punkte-Pläne, dort imperiale Drohungen und Kahlschläge aller Art, dazwischen diskursiver Wahnwitz à la „Riviera“, „Kommunist Hitler“, „Aggressor Ukraine“. Wer so handelt und spricht, blendet Wirklichkeit nicht nur aus. Er verkehrt sie, und das bewusst. Am Werk ist eine Politik des Konfusionismus, die darauf zielt, zu überwältigen, zu verunsichern und zu lähmen. Mitten durch das Dröhnen hindurch vollzieht sich die rechtsautoritäre Machtübernahme.
Nicht von ungefähr hat ein Satz gerade wieder Konjunktur, den der italienische Marxist Antonio Gramsci 1930, von den Faschisten inhaftiert, geschrieben hat: „Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren. Das ist die Zeit der Monster.“ Nun fallen Monster nicht vom Himmel. Sie kriechen unter dem Bett hervor, weil ihre Zeit gekommen ist. Seit Jahrzehnten werden multilaterale Institutionen ausgehöhlt und das Völkerrecht desavouiert. Während Reiche immer reicher werden, sind soziale Infrastrukturen geschliffen worden. Der neoliberale Kapitalismus hat den Boden bereitet, jetzt übernimmt sein autoritärer Thronfolger. Mal mit Kettensäge, mal mit Heckenschere stürzt er sich auf das, was von einer regelbasierten Weltordnung und ihren liberal-demokratischen Versprechen noch übrig ist. Die Beschädigungen sind schon jetzt enorm. Alles hat ein Ende?
Es gehört zu den Traditionen von medico, die Realität zwar in dunklen Farben zu zeichnen, sie aber zugleich nicht schwarzzumalen. Ansatzpunkt sind die Risse, in denen sich Widerspruch regt. So sollte nicht übersehen werden, dass die Rechtsdrift hierzulande auch zu einer beachtlichen Politisierung und Mobilisierung von links geführt hat, gerade unter der jungen Generation. Doch auch der Blick, den dieses rundschreiben ins globale Handgemenge wirft, entdeckt nicht allein Niedergang – im Gegenteil.
Es beginnt mit den rechten Verwüstungen. Der Leitartikel von Mario Neumann zeichnet nach, wie Politik und Medien im Wahlkampf die Ethnisierung gesellschaftlicher Probleme vorangetrieben haben. An anderer Stelle zeigt Karoline Schaefer auf, dass nicht nur die Trump-Administration USAID zerlegt – auch in Berlin werden Etats für Entwicklungszusammenarbeit gekürzt und Hilfe auf Eigennutz getrimmt: „Germany first“, gleichgültig gegenüber dem Leben anderer und anderswo. Weitere Beiträge berichten hingegen von Bewegungen gegen das Autoritäre – sei es der anhaltende Widerstand der kenianischen Zivilgesellschaft gegen die Missachtung grundlegender Rechte, sei es der Wahlsieg eines Linksbündnisses in Sri Lanka, der auch Räume für die bislang verhinderte Aufarbeitung der Kriegsverbrechen im Land eröffnet hat. Wie sich Unrecht ahnden und Gerechtigkeit schaffen lässt: Diese Frage durchzieht fast das gesamte Heft, so auch den Schwerpunkt über Syrien.
Zu den Paradoxien des globalen Geschehens gehört, dass ausgerechnet das Land, in dem lange alles verloren schien, unverhofft zum Silberstreif geworden ist. Der Sturz des Assad-Regimes erinnert daran, dass selbst die brutalste Herrschaft irgendwann endet. Anita Starosta ist durch das Land gereist und hat mit zahlreichen medico-Partner:innen gesprochen. Ihre Reportage erzählt von einer Gesellschaft, die ihre Freiheit noch kaum fassen kann, aber auch weiß, dass das Ringen um eine demokratische Zukunft gerade erst begonnen hat. Was dort geschieht, mag weit weg erscheinen. Das ist es nicht. Seit 2015 ist die „syrische Erfahrung“ ein Teil Deutschlands. So finden sich in diesem rundschreiben drei Beiträge von Menschen, die wegen ihres Einsatzes für Menschenrechte aus Syrien fliehen mussten und seither in Deutschland leben: die Anwältin Joumana Seif, der Schriftsteller Yassin al-Haj Saleh und der Aktivist Tareq Alaows. Das allein ist eine Botschaft. In monströsen Zeiten ist die Realisierung und Verteidigung der pluralen, postmigrantischen Gesellschaft ein zentraler Einsatz. Ausgehend hiervor kann, in den Worten Gramscis, eine „neue Welt geboren“ werden.
Alles hat ein Ende. Die gute Nachricht: Mit dem Ende dieses Editorials fängt das rundschreiben erst richtig an!
Solidarische Grüße
Christian Sälzer